Ein Fenster, ein Ausblick oder Einblick, verspielt mit weißem Spitzenvorhang versehen, gerahmt von Pastellfarben, an der einen Seite angeschnitten das Profil einer Lyra, dem klassisch griechischen Instrument, an der anderen Seite läuft der Rahmen in eine dunkle sich wellende Form, die einem Stück schweren Stoffes gleicht. Dieses vielschichtige kleine Kunstwerk, zwischen Gemälde und Skulptur, trägt den Titel The moon was tilted No.7 (Golden-Sandalled Dawn) und leitet in die Ausstellung From the Boat Drifting Past a Forest of Stars (Der Blick von einem Boot, das durch den Wald der Sterne gleitet) der Künstlerin Natsuki Oshiro ein.
Der Titel und das einleitende Kunstwerk zeigen sowohl den Bezug zur griechischen Dichterin Sappho als auch Anleihen aus der japanischen Dichtkunst auf, von der sich die Künstlerin inspirieren ließ. Gleichzeitig setzt die Arbeit in zweierlei Hinsicht den Ton für die gesamte Ausstellung: Ton im Sinne von Farbton, denn Natsuki Oshiro arbeitet in einer ihr ganz eigenen Farbpalette, die die Ausstellung visuell zusammenhält. Ton, aber auch im Sinne der Stimmlage, der Erzählstimme. Denn die Künstlerin setzt ihr Interesse an Gedichten in visuelle Sprache um, die ihre Form in Wandgemälden, Holzskulpturen und Textilien findet. Zusammen ergeben diese Aspekte ein räumliches und gedankliches Gesamtkunstwerk, durch das sich die Besucher*innen hindurchbewegen.
Die zarten Farben Hellblau, Hellgelb, Rosa und Hellgrün leiten vom ersten Kunstwerk im Eingangsbereich über in einen Raum, dessen Wände ganz mit flächigen ornamentalen Formen bedeckt sind. Auf dem Boden verstreut befinden sich einige handtellergroße Scheiben aus Gips. Sie stehen sinnbildlich für Sterne und den weiten Nachthimmel, über den der Mond gleich einem Boot hinweg gleitet. Dieses poetische Bild findet sich in den Gedichten Sapphos ebenso wie in der japanischen Dichtkunst aus dem Man’yōshū (万葉集), der frühesten überlieferten Gedichtsammlung aus dem 7. Jahrhundert, und wird zum Leitgedanken der Ausstellung.
Die aufrechtstehende Arbeit in diesem Raum, zeigt schlichte abstrakte Wellenmuster auf der Seite und trägt den Titel The boat of the moon drifts into a forest of stars. Durch die Methode des Mitate (見立て) werden Materialen und Begriffe miteinander symbolisch verbunden und in Bezug zueinander gesetzt. Mitate bedeutet wörtlich „etwas als etwas anderes sehen“ oder „etwas mit etwas anderem in Bezug setzten“. Diese spielerische Methode der Imagination und freien Assoziation findet sich beispielsweise in der japanischen Gartenkunst, in der Steine und Sand etwa für Wasser und Wellen stehen.
Die Wand, die den Ausstellungsraum mittig teilt, ist mit einem Fenster versehen, durch das die Besucher*innen hindurch blicken können. „Ist es möglich, die gleiche Landschaft zu sehen, wie Menschen in lang vergangener Zeit?“ fragte sich die Künstlerin während der Lektüre der griechischen und japanischen Gedichte. Während ihres Aufenthaltes in Berlin fand sie diesen Gedanken beim österreichischen Lyriker Rainer Maria Rilke wieder, der im Gedicht Klage schreibt: „Ich glaube, der Stern, von welchem ich Glanz empfange, ist seit Jahrtausenden tot.“ Ihm und seiner Poesie widmet die Künstlerin die zentrale Skulptur One of all the stars must surely still exist in diesem Raum. Der Ozean, der Himmel und die Sterne werden zur Projektionsfläche für menschliche Sehnsucht und Sinnsuche.
Der Mond, das Mondlicht und in besonderem der Schatten, den helles Mondlicht in einer dunklen Nacht werfen kann waren für die aus der Mega-Metropole Tokyo stammende Künstlerin eine Inspiration für zwei weitere Arbeiten in dieser Ausstellung. Gleichzeitig ist der Mond in den Gedichten Rilkes, Sapphos und aus dem Manyoshu eine präsente und oft zitierte Naturerscheinung, die das mythische und das transzendente im Leben der Menschen versinnbildlicht.
Allen dreien Gedichttraditionen ist die Naturanschauung gemein und diese bildet auch die Basis der Ausstellung From the Boat Drifting Past a Forest of Stars. Eine ruhige poetische Ausstellung, die danach fragt, wieviel Zeit und Raum die Sehnsucht, das Mythologische und stille Naturerfahrung als sinnliches Erlebnis in den Großstädten der Welt hat.
Text: Nora Wölfing