Der konzeptuelle Rahmen des diesjährigen LABA-Stipendienprogramms ist Entropie. Jede Woche trafen sich jüdische und muslimische Künstler*innen im Künstlerhaus Bethanien, um Entropie aus wissenschaftlicher, theologischer und philosophischer Perspektive zu erforschen und, begleitet von Vertreter*innen beider Konfessionen, in Beziehung zu ihrer künstlerischen Praxis zu setzen.
Entropie markiert den Lauf der Zeit und die Unvermeidbarkeit von Veränderung: Verfall, Zerstörung, Zersetzung. Doch Chaos ist nicht unvermeidlich, sondern gestaltbar: Sein Fortschreiten lässt sich durch Aufmerksamkeit, Fürsorge und Reparatur verlangsamen. Viele der Stipendiat*innen untersuchen, wie Entropie entsteht und sich entwickelt, und wie das Gefühl ihrer Unvermeidbarkeit hinterfragt werden kann. Die Arbeiten in der Ausstellung nehmen diese Herausforderung auf: Durch Film, Installation, Malerei und Performance verfolgen die Künstler*innen Entropie bis zu ihren Ursprüngen, zeichnen ihre Verläufe nach und entwirren ihre Mechanismen.
Die Installation A Place That Loves You Back von Ioana Lungus vermittelt beim Betreten der Ausstellung die Intimität eines typischen Wohnzimmers nach Balkan-Tradition. Auf einem Fernseher erzählt ein Video jedoch die Geschichte der verlorenen Insel Ada Kaleh in Rumänien. Einst lebten hier muslimische Sufis; In den 1970er Jahren wurde die Insel durch ein staatliches Projekt zur Flutung des Gebiets zerstört. Ioana Lungus Arbeit thematisiert Entwurzelung, Diaspora, Auslöschung und die entropischen Spuren, die Erinnerung hinterlässt.
Nimrod Astarhans Lighting the Same Fire greift eine andere verlorene Welt auf: Eine Reihe von Solarpaneelen, angeordnet wie eine Sonnenuhr, inspiriert vom multi-konfessionelle jüdische Königreich der Chasaren, wirft Licht in den Ausstellungsraum. Die unregelmäßigen Lichtmuster erzeugen überraschende, unvorhersehbare Effekte. Im Sinne einer „Technologie der Hoffnung“ fragt diese Arbeit, ob Wissen und Energie einer verlorenen Zivilisation wieder nutzbar gemacht und neu belebt werden können.
Eine Reihe von Regalen entlang der Wand nimmt Bezug auf ein anderes natürliches System. Cory Tamlers Liebe kleine Panke besteht aus Spaziergängen entlang des Panke-Flusses, von seiner Quelle in Bernau bis zu seinen Mündungen in Berlin, und ist in sieben Abschnitte unterteilt. Jedes Regal steht für einen Abschnitt und enthält gesammelte Aufzeichnungen, die den Prozess der Sedimentation sichtbar machen. Ein Tonkrug (gemeinsam mit den Mar’a’yeh-Stipendiat*innen hergestellt) eine Zusammenarbeit mit Annabel Zoe Paran, greift die kabbalistische Vorstellung der „Zerschlagung der Gefäße“ auf, um das Tashlich – ein Sühneritual während Rosch Haschana – neu zu interpretieren, das die Künstler*innen entlang des Panke-Flusses inszenierten.
Eine Frau sitzt am Tisch und hält ihr Telefon ans Ohr. In Hümeyranur Imamoglus Porträts widersetzt sich die nüchterne Darstellung der Figuren einer einseitigen Reduktion und besteht auf ihrer Ganzheit. Unter Bezug auf Sigmund Freuds Begriff des Unheimlichen erforschen die Figuren das unvorhersehbare Zusammenspiel von Stille, Projektion und Selbstbehauptung.
In der Ecke steht eine große Leuchtbox (Witness), zusammengesetzt aus Hunderten Bildfragmenten, von denen jedes an eine/n Palästinenser*in erinnert, die in Gaza vom israelischen Staat getötetet wurde und deren Namen Ruth Sergel seit 2014 sammelt. Daneben versammelt The Worst Jew in Berlin Fotografien, Objekte, Geschichten und Bilder, die vom jüdischen Leben in Berlin erzählen und von der Erfahrung, zwischen vergangenen und gegenwärtigen Verbrechen zu existieren. Beide Arbeiten werden in bewusst unvollständigen Zuständen präsentiert, was die fortwährende Dimension des Verlustes eindrücklich betont.
Die Allgegenwärtigkeit von Gräueltaten macht ihre vollständige Erfassung unmöglich. In Nazanin Bahramis You Have Seen This Before werden Nachrichten-Schnipsel auf lange transparente Papierrollen gedruckt, die an Filmstreifen erinnern. Mit jeder Wiederholung verblassen die Bilder allmählich, bis sie verschwinden. Die Künstlerin untersucht, wie viel Anstrengung es erfordert, inmitten redaktioneller Voreingenommenheit, Zensur und Algorithmen, die Empathie unterrücken, präsent zu bleiben.
Desert Things, ein Sandrelief von Annabel Zoe Paran hinterfragt die Wüste als Ort und Medium. Der Sand wird zur greifbaren Verkörperung von Entropie – dem kontinuierlichen Zerfall des einstmal Ganzen – und verweist zugleich auf den mythologischen Ausgangspunkt der Verbindung zwischen jüdischer Identität und dem Land.
Farah Bouamars audiovisuelle Installation To Speak of a Djibuk greift Mythen über Djinn und Dybbuk, Geisterwesen der muslimischen und jüdischen Tradition, auf. Zwischen Leben und Tod, Ordnung und Chaos werden diese Geister zu Projektionen von Angst, Sehnsucht und Hoffnung. Bildfragmente und Stimmen in Arabisch, Hebräisch und Englisch erzeugen eine Textur der Dissonanz.
In Guli Dolev-Hashilonis Bahnhof Bar begleiten Champagnerflaschen ein detailliertes Menü mit experimentellen Weinbeschreibungen. Die Arbeit baut auf Recherchen zu Bordellen auf, die polnische Holocaust-Überlebende in Frankfurt betrieben. Inmitten des Chaos und unvorstellbaren Zerstörung eröffneten diese Bars Jüd*innen im Nachkriegsdeutschland einen prekären Weg zu Selbstbestimmung.
Ein Brautschleier dient als Requisite für Nicole Wysokikamiens Performance Lay All Your Love On Me. Die Hochzeit fungiert hier sowohl als Anfang als auch als Ende und macht das Potenzial religiöser Rituale sichtbar.
In einen Raum im Erdgeschoss, präsentiert Mudassir Sheikh eine immersive Installation aus weißem Stoff, Moskitonetzen, gespenstischem Licht und Klanglandschaften, die einen Raum der Trauer entstehen lässt. Die Arbeit verknüpft akustische Kriegsführung und Mythos miteinander: sie nimmt einerseits Bezug auf die Drohnen, die heutige Konfliktzonen heimsuchen, und andererseits auf die instrumentalisierten falschen Genealogien, mit denen die Briten während der Kolonial-herrschaft in Pakistan behaupteten, Paschtunen stammten von den Zehn Verlorenen Stämmen Israels ab. Beide Stränge offenbaren eine koloniale Logik, deren Nachwirkungen bis in die heutige Erfahrung des Muslimseins in Deutschland reichen.
Die ausgestellten Arbeiten spiegeln die Vielfalt künstlerischer Praktiken und kultureller Hinter-gründe innerhalb des Stipendienprogramms wider. Mar’a’yeh (كراٍم), das titelgebende Wort des interreligiösen Programms von LABA Berlin – initiiert in Kooperation zwischen der Fraenkelufer-Synagoge und der Deutschen Islam Akademie – ist ein levantinisch-arabisches Wort, das das hebräische Mar’a (מַראָה) in sich trägt; beide bedeuten „Spiegel“. Mar’a’yeh verkörpert die materielle und historische Verbundenheit von Islam und Judentum und widersetzt sich zugleich der Tendenz, beide lediglich als Spiegelbilder oder Gegensätze zueinander zu begreifen. In Deutschland werden die beiden Gemeinschaften oft als monolithisch wahrgenommen und gegeneinander ausgespielt – es wird über sie gesprochen, statt ihnen zuzuhören.
In einer Zeit, in der muslimisch-jüdische Beziehungen fälschlicherweise auf den Konflikt zwischen Israel und Palästina reduziert werden, lehnen die beteiligten Künstler*innen einfache Gleichsetzungen, politische Symbolik und tokenisierten Lesarten ab. Stattdessen nehmen sie die Spannungen, die ihren Begegnungen innewohnen, bewusst an – und entscheiden sich für die rauen, widersprüchlichen Realitäten der Entropie anstelle der glättenden Vereinfachungen eines harmonisierenden Narrativs. Entropie besitzt keine moralische Wertung; sie verweist allein auf das, was kommt. Unsere Aufgabe ist es, die Fragmente zu bewahren – und in ihnen neue Möglichkeiten zu entdecken.
Text: Julia Bosson
VERANSTALTUNGEN
23.10.
19:00
Ausstellungseröffnung
20:00
Rachel Libeskind, Ariel Efraim Ashbel und Colin Hacklander
Performance
01.11.
19:00–21:30
Bad Cousins Podcast Launch
Guli Dolev-Hashiloni, Dr. Matan Kaminer, Ben Schuman-Stoler
Listening Session und Gesprächsrunde
Sprache: Englisch
06.11.
19:00–20:30
Between the River and the Sea
Yousef Sweid
Performance
Sprache: Englisch
Anmeldung erforderlich
08.11.
19:00–20:00
Lay all your love on me
Nicole Wysokikamien
Performance
Sprachen: Englisch, Spanisch, Hebräisch
Anmeldung erforderlich
13.11.
18:00–19:00
Lay all your love on me
Nicole Wysokikamien
Performance
Sprachen: Englisch, Spanisch, Hebräisch
Anmeldung erforderlich
06.12.
19:00–20:00
Wet Sand
Annabel Paran, Marlen Pflüger
Performance
Sprache: Englisch
11.12.
19:00–20:00
You Have Seen This Before
Nazanin Bahrami
Performance
Sprache: Englisch
20:15–21:15
Yiddish, Germans and Thieves
Guli Dolev-Hashiloni,
Yiddish.Berlin Collective
Gesprächsrunde
13.12.
19:00–20:00
You Have Seen This Before
Nazanin Bahrami
Performance
Sprache: Englisch
20:30–22:00
Elemental Media as Mystical Technology
Mudassir Shekh, Nimrod Astarhan
Performance
Sprache: Englisch
14.12.
Finissage
15:00
Performative Intervention
von und mit Rachel Libeskind und Gästen
Wöchentliche Veranstaltung
Jeden Donnerstag
14:00–15:00
Witness
Ruth Sergel
Performance
Sprache: Englisch, amerikanische Zeichensprache